Wenn ich beim Morgengebet im Chorgestühl der Stiftskirche sitze, blicke ich auf eine Wandmalerei über dem Eingang zur Sakristei.
Verschlungene Bänder knüllen sich in den Winkeln zu Knoten.
Knoten lösen?
Beim Gang in die Krypta verharre ich vor der Skulptur des sitzenden Christus.
Ein Moment der Ruhe zwischen seiner Entkleidung und der Kreuzigung.
Ein dicker Tauknoten drückt die Stirn des schönen Kopfes, die Arme sind gefesselt.
In der Stille der Krypta schwebt ein leise gesummter Ton.
In diesem erhabenen, stillen Raum mit der feinen Akustik haben Frauen schon täglich gesungen und gebetet, als die Stiftskirche noch im Bau war Es war die Zeit, in der Hildegard von Bingen ihre Lieder komponiert hat. Wie hätte Hildegard mit Ihren Schwestern diesen Raum zum Klingen gebracht?
Ich finde in der Sammlung ihrer Lieder das o vis aeternitatis:
O Urkraft der Ewigkeit, in deinem Herzen ordnest du alles, erschaffen ist alles, wie du es gewollt, durch dein Wort. Und dieses dein Wort, es zog Fleisch an in jener Gestalt, wie sie von Adam her stammt. Und so ward genommen von seinem Gewande schmerzliches Leid. O wie groß ist unseres Heilandes Güte! Er hat, da er Mensch ward durch den Odem der Gottheit, -ohne die Fessel der Sünde- alles befreit. Und so ward genommen von seinem Gewande schmerzliches Leid. Dem Vater sei Ehre, dem Sohn und dem Heiligen Geist! Und so ward von seinem Gewande genommen schmerzliches Leid. Übersetzung aus dem Lateinischen Sr Adelgundis Führkötter
Ich betrachte die Stelle sine vinculo peccati – ohne die Fessel der Sünde.
Hildegard verwendet für die 3 Silben des Wortes vinculo (Fessel) 9 Töne!
Beim übenden Singen spüre ich, dass im Auf-und Abschwung der Melodie der Knoten bereits gelöst ist.
Üben ist das „tägliche Brot“ des Musikers.
In dieser 5. Fastenwoche will ich das o vis aeternitatis einüben und so vielleicht etwas erahnen von der „Urkraft der Ewigkeit“.
Ursula Schroeder
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