Ob diejenigen, die diese Jahreslosung für das Jahr 2021 ausgesucht haben, ahnten, wie sich das vergangene Jahr 2020 entwickeln würde?
Schon Anfang März, als ich mich für 2 Wochen in meinem Elternhaus an der Nordseeküste aufhielt, wurde ich bei der Polizei angezeigt: ich hatte kein einheimisches Autokennzeichen. Meine Familie lebt seit fast 100 Jahren in dem Haus und nun fühlte ich mich in meinem eigenen Zimmer fremd. Vor allem bewegte mich ein Gedanke: Wer von den Nachbarn war es wohl? Denunziantentum kam zu neuer Blüte.
Wir werden einander viel zu vergeben haben
Wenig später war in einer Pressekonferenz mit Jens Spahn, dem Bundesgesundheitsminister folgender Satz zu hören: „Wir werden alle einander viel, sehr viel zu vergeben haben.“
Dieser Satz klingt in mir nach, begleitete mich durch das ganze Jahr. Sie erinnern sich: Maske tragen, ja oder nein. Besuche im Pflegeheim: mit Anmeldung und Glasscheibe, unwürdig oder nötig? Covid 19: wie eine Grippewelle oder doch eine gefährlichere Seuche? Wie viele Debatten wurden geführt über den Sinn von Verordnungen, über Recht und Gerechtigkeit, über Verzicht und Solidarität… Es ging an die Substanz, die seelische und die körperliche- weltweit.
Fronten entstanden in Familien, Freundschaften zerbrachen, Rechthaber und Besserwisserinnen trafen aufeinander. Unterschiedliche Meinungen treffen verhärtet aufeinander, die Gewalt, seelische und körperliche wächst.
„Wir werden alle einander viel, sehr viel zu vergeben haben.“
Noch wissen wir nicht, was richtig und falsch war, denn vieles lässt sich erst im Nachhinein beurteilen, und selbst dann gibt es häufig keine Eindeutigkeit. Ich möchte nicht in der Haut der hauptverantwortlichen Politikerinnen und Ärzten stecken, aber auch ich muss entscheiden und tue dies nach bestem Wissen und Gewissen. Aber ob das allein schon reicht?
„Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.“
Die Bibel unterscheidet sehr deutlich von der Barmherzigkeit des Menschen und der Barmherzigkeit Gottes. Sie tut dies genauso, wenn es um Weisheit und Gerechtigkeit geht, wohlwissend, dass der Mensch sehr eingeschränkt ist mit seiner Wahrnehmung, seiner Subjektivität, eingebunden in die Kultur, die Prägung des Milieus, der Zeitgeschichte. Als Christin bin ich mir immer bewusst, dass mein Leben fragmentarisch ist, dass ich auf das Erbarmen Gottes, auf die Vergebung angewiesen bin. Und nicht nur der Vergebung durch Gott, sondern auch von meiner Familie, meinen Mitmenschen im privaten und auch im öffentlichen Bereich. Um die eigene Unvollkommenheit zu wissen, ermöglicht es mir auch, offen zu sein für die Mehrdeutigkeit des anderen Menschen.
Der Nachbar, der mich angezeigt hat, fühlte sich sehr verunsichert, weil er im hohen Alter zur Risikogruppe gehört. Und weil er sich kaum aus dem Haus bewegt, konnte er mich nicht als Nachbarin erkennen. So gibt es viele Facetten, die das Leben manchmal schwierig (weil nicht eindeutig) machen.
Manchmal ist das Leben wie ein Kaleidoskop, das in vielen einzelnen Teilchen durcheinandergeschüttelt wird und zum Schluss doch ein vielfältiges und auch farbiges Bild zeigt, das uns eine neue Ansicht möglich macht.
Das wünsche ich mir für das neue Jahr: dass wir offen füreinander bleiben, zuhören und nicht gleich urteilen, nach-forschen, nach-denken und dankbar sind für alles, was Gott uns zum Leben schenkt.
„Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“ Mt.5,7
Allen, die dem Stift Fischbeck verbunden sind, wünsche ich ein hoffnungsvolles und erfülltes Jahr 2021 und grüße Sie und euch auch im Namen der Stiftsdamen!
Katrin Woitack, Äbtissin