Der Traum vom Zweiten Advent

Es war einmal ein Pfarrer, der stets gewissenhaft seine Predigten vorbereitete. Schon montags studierte er die Bibeltexte des kommenden Sonntags, und wenn ihm im Laufe der Woche ein guter Gedanke kam, notierte er ihn sogleich. Bis schließlich am Samstag aus seinen Notizen die Predigt wurde.

Und es werden Zeichen geschehen an Sonne und Mond und Sternen, und auf Erden wird den Völkern bange sein, und sie werden verzagen vor dem Brausen und Wogen des Meeres, und die Menschen werden vergehen vor Furcht und in Erwartung der Dinge, die kommen sollen über die ganze Erde; denn die Kräfte der Himmel werden ins Wanken kommen. Und alsdann werden sie sehen den Menschensohn kommen in einer Wolke mit großer Kraft und Herrlichkeit. Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, dann seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.

Predigttext zum Zweiten Adventssonntag 2019: Lukas-Evangelium Kapitel 21, Verse 25-28

Doch in der Nacht vor dem Zweiten Advent war alles anders. Noch immer saß der Pfarrer ratlos vor den Worten des Evangelisten Lukas. Der Notizblock war im Laufe der Woche leer geblieben. Zu den Erschütterungen des Himmels und den Katastrophen der Erde, zum Kommen des Menschensohnes und der großen Angst der Menschen, dazu fiel ihm nichts ein. Wie passt so ein Horrorbild zur Adventszeit, zur guten Botschaft, die Jesus sonst verkündet?

Plötzlich kam ihm ein Geistesblitz: Ich werde meine Gemeinde aufrütteln und ihr sagen, dass die Warnung von Jesus zeitlos ist. Lebt nicht in den Tag hinein! Vergesst nicht, dass euer Leben und die Welt vergänglich sind! Denkt dran, dass ihr einmal Rechenschaft ablegen müsst! Erschreckt darüber, wie oberflächlich ihr geworden seid!

Doch als der Pfarrer diese Gedanken zu Papier gebracht hatte, kamen ihm Bedenken. Waren sie nicht zu streng, zu hart? Wieder sah er auf seinen Bibeltext und blieb an einem Satz hängen: „Wenn aber dieses anfängt zu geschehen, dann seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.“ Da beschloss er, seine Gemeinde nicht aufzurütteln, sondern zu trösten: Wer sich an Jesus hält und sich an seiner Botschaft ausrichtet, der braucht keine Angst zu haben, sondern kann erlöst und befreit, aufrecht durchs Leben gehen! Der richtende Christus wird der aufrichtende, stärkende und ermutigende Christus sein! Angst wird nicht das letzte Wort haben!

Der Pfarrer war zufrieden und stolz, doch noch eine frohe Botschaft entdeckt zu haben. Aber je länger er darüber nachdachte, desto unsicherer wurde er wieder. Waren seine Gedanken nicht zu glatt, zu harmlos? Würde so nicht die mahnende Botschaft von Jesus verloren gehen?

Noch lange grübelte der Pfarrer, und schließlich schlief er am Schreibtisch ein. Er träumte, Gott hätte ihm ein Buch geschenkt, und als er sich schon freute, es intensiv zu lesen, oje, da fiel es in ein Feuer und verbrannte. Lange trauerte er dem Buch nach, denn er ahnte, dass er darin eine wichtige Botschaft für sich gefunden hätte. Worte, die seinem Leben Richtung und Sinn gegeben hätten. Da dachte er bei sich: Dann muss ich eben so leben, als ob ich dieses Buch gelesen hätte. Und er tat Gutes, half, wo er konnte, und versuchte, ein aufrichtiges und geradliniges Leben zu führen. Als er schließlich wieder vor Gott gerufen wurde, fragte der ihn, was er für ihn getan habe. Er wurde verlegen und antwortete: „Herr, ich wusste nicht, was ich für dich hätte tun sollen. Denn das Buch, das du mir geschenkt hast, und in dem es wohl stand, habe ich verloren.“ Da sprach Gott: „Bringt ihm sein Buch!“ Da kamen viele Menschen zu ihm, die er getröstet, ermutigt und versöhnt hatte. Und Gott sagte: „Das ist dein Buch. Du hast richtig gelesen und verstanden, ohne die Seiten aufzuschlagen.“

Da wachte der Pfarrer auf – und jetzt wusste er, was er den Menschen sagen würde. Er beschloss, ihnen von seinem Traum zu erzählen, in der Hoffnung, dass sie in ihm beides, die aufrüttelnde und die tröstende Botschaft des Evangeliums entdecken würden. Er wünschte sich, dass sie spürten: selbst wenn wir dieses Buch aus den Augen verlieren, selbst wenn wir nicht genau wissen, welchen Weg Gott uns führen will – wenn wir uns an Jesus orientieren und ihn in unseren Schwestern und Brüdern erkennen, dann sind wir auf der richtigen Spur.

Es war einmal in der Nacht vor dem Zweiten Advent … vielleicht nicht nur ein Märchen.

Wir wünschen Ihnen einen gesegneten Zweiten Advent!

(Geschichte nach einer Idee von Roland Mörchen)

Stift Fischbeck